Laut Plänen der Bundesregierung soll in Kürze eine Impfpflicht eingeführt werden. Doch um was für Stoffe geht es genau? In Politik und Medien heißt es, dass die neuartigen mRNA-Präparate – wie etwa „Comirnaty“ von Biontech – Impfstoffe seien, für die deshalb auch ähnliche Regeln und rechtliche Bestimmungen gelten würden, wie für andere bekannte und lange etablierte Impfungen. Kritiker erklären hingegen, es handle sich um „Gentherapie“, die nur deshalb als Impfung bezeichnet würde, um eine strengere gesetzliche Regulierung und hohe Zulassungshürden zu umgehen. Was stimmt?
Impfen ist etwas Positives, es hält gesund und ist notwendig – dessen sind sich viele Menschen sicher, gerade auch in der Corona-Krise. Zwar handle es sich bei der nun angewandten mRNA-Technologie um ein neues Verfahren, doch könne man bei dessen Bewertung auf die umfassenden Erfahrungen zurückgreifen, die bei anderen Impfungen in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten gewonnen worden sind. Das Risiko sei überschaubar. Auch sei eine Verpflichtung zur Anwendung der mRNA-Präparate („Impfpflicht“) rechtlich gesehen durchaus im Rahmen des Erlaubten – schließlich gebe es ja auch bereits eine Impfpflicht gegen Masern.
Einschätzungen mehrerer Fachleute wecken nun allerdings Zweifel an dieser Darstellung. So äußerte sich jüngst der Bayer-Vorstand Stefan Oelrich in einer Weise zu den mRNA-Präparaten, die grundlegende Fragen aufwirft. Oelrich ist Leiter der Medikamentensparte des Bayer-Konzerns, die im vergangenen Jahr unter seiner Verantwortung einen weltweiten Umsatz in Höhe von 17 Milliarden Euro erzielte. Zur Eröffnung des jährlich stattfindenden World Health Summit am 24. Oktober in Berlin sprach er neben dem Bundesgesundheitsminister, dem WHO-Direktor, der EU-Kommissionspräsidentin und dem UN-Generalsekretär. In seiner Begrüßungsrede räumte Oelrich ein:
„Die mRNA-Impfungen sind ein Beispiel für Zell- und Gentherapie. Hätten wir vor zwei Jahren eine öffentliche Umfrage gemacht und gefragt, wer bereit dazu ist, eine Gen- oder Zelltherapie in Anspruch zu nehmen und sich in den Körper injizieren zu lassen, dann hätten das wahrscheinlich 95 Prozent der Menschen abgelehnt. Diese Pandemie hat vielen Menschen die Augen für Innovationen in einer Weise geöffnet, die vorher nicht möglich war.“
Die mRNA-Injektionen sind demzufolge keine Impfung in dem Sinne, wie man den Begriff bisher verwandte. Es handelt sich laut Oelrich um Gentherapie, die bis vor kurzem noch in hohem Maße umstritten war.
Auch andere Fachleute schätzen das so ein. Am 2. November, eine Woche nach Oelrichs Erklärung in Berlin, tagte in Washington auf Einladung von Senator Ron Johnson ein Expertengremium, um die Kampagne zur Verabreichung der mRNA-Präparate einzuschätzen. Unter den geladenen Fachleuten befand sich Peter Doshi, Professor für pharmazeutische Forschung im Gesundheitswesen an der University of Maryland sowie Redakteur beim Magazin The BMJ, auch bekannt als British Medical Journal, einem der weltweit renommiertesten medizinischen Fachjournale. Doshi erklärte auf der Tagung:
„Ich bin einer derjenigen Akademiker, die die Ansicht vertreten, dass diese mRNA-Produkte, die jeder ‚Impfstoffe‘ nennt, sich qualitativ von Standardimpfstoffen unterscheiden. Ich fand es erstaunlich zu erfahren, dass das Merriam-Webster Wörterbuch die Definition von ‚Impfstoff‘ Anfang dieses Jahres geändert hat. mRNA-Produkte erfüllten nicht die Definitionskriterien für einen Impfstoff, welche 15 Jahre bei Merriam-Webster galten. Die Definition wurde jedoch so erweitert, dass mRNA-Produkte nun als Impfstoffe gelten.“
Die Wörterbücher von Merriam-Webster entsprechen dem Duden im Englischen Sprachraum. Tatsächlich wurde die Definition dort im Januar 2021, also zu Beginn der weltweiten Impfkampagne, entsprechend geändert (hier die Einträge vor, und nach der Änderung). Doshi knüpfte daran die folgende Frage:
„Wie würden Sie über eine Covid-Impfpflicht denken, wenn wir diese Präparate nicht ‚Impfstoffe‘ nennen würden? Was, wenn diese Injektionen stattdessen als Medikamente bezeichnet würden? Das Szenario lautet dann: Wir haben dieses Medikament und wir haben Beweise, dass es weder eine Infektion verhindert, noch die Virusübertragung stoppt. Das Medikament soll aber das Risiko verringern, schwer zu erkranken und an Covid zu sterben. Würden Sie alle sechs Monate, möglicherweise für den Rest Ihres Lebens, eine Dosis dieses Medikaments einnehmen, wenn das nötig wäre, damit das Medikament wirksam bleibt? Und würden Sie nicht nur selbst das Medikament einnehmen, sondern auch eine gesetzliche Pflicht unterstützen, dass alle anderen Menschen das Medikament ebenfalls einnehmen müssen?
Oder würden Sie sagen: Moment mal – wenn das alles ist, was das Medikament kann, warum verwenden wir stattdessen keine normale Medizin, wie wir sie sonst auch nehmen, wenn wir krank sind und wieder gesund werden wollen? Und warum die Einnahme verpflichtend machen? Der Punkt ist: Nur weil wir es einen Impfstoff nennen, sollten wir nicht annehmen, dass diese neuen Produkte das Gleiche sind, wie alle anderen Kinderimpfungen, die verpflichtend sind. Jedes Produkt ist etwas anderes. Wenn Menschen damit einverstanden sind, etwas verpflichtend zu machen, nur weil es eine Impfung ist und wir auch andere Impfungen verpflichtend machen, dann denke ich, ist es an der Zeit, etwas kritisches Denken in diese Diskussion einzubringen.“
Gesetzesänderung machte Gentherapie zur „Impfung“
Wie ist die Rechtslage in Deutschland? Wo ist definiert, was als Impfung gelten kann und was nicht? Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages haben dazu im Januar 2021 eine fachliche Einordnung vorgelegt, in der es mit Verweis auf EU-Richtlinie 2001/83/EG heißt, dass „Arzneimittel, die mRNA enthalten, als Gentherapeutika zu klassifizieren“ sind. Davon gebe es jedoch eine Ausnahme, nämlich „Arzneimittel mit mRNA, die Impfstoffe gegen Infektionskrankheiten sind“.
Wie erklärt sich diese Ausnahme? Eine Recherche zeigt, dass sie sich auf eine Gesetzesänderung im Jahr 2009 zurückführen lässt. Vor dieser Änderung hieß es in Paragraf 4 des deutschen Arzneimittelgesetzes:
„Impfstoffe sind Arzneimittel (…), die Antigene enthalten und die dazu bestimmt sind, bei Mensch oder Tier zur Erzeugung von spezifischen Abwehr- und Schutzstoffen angewendet zu werden.“
2009 änderte sich das. Im März jenen Jahres, kurz vor Ausbruch der Schweinegrippe, legte die Bundesregierung einen Gesetzentwurf „zur Änderung arzneimittelrechtlicher Vorschriften“ vor, der unter anderem notwendig sei, um das Arzneimittelgesetz an eine europäische Verordnung anzupassen, die den Umgang mit neuartigen Gentherapeutika regelte. Die verantwortliche Gesundheitsministerin war damals Ulla Schmidt (SPD). In dem 72-seitigen Gesetzentwurf versteckte sich auf Seite 10 folgender unscheinbarer und ohne weiteren Kontext schwer verständlicher Änderungsvorschlag:
„In Absatz 4 werden nach dem Wort ‚Antigene‘ die Wörter ‚oder rekombinante Nukleinsäuren‘ und vor dem Punkt am Ende die Wörter ‚und, soweit sie rekombinante Nukleinsäuren enthalten, ausschließlich zur Vorbeugung oder Behandlung von Infektionskrankheiten bestimmt sind‘ eingefügt.“
Zur Erläuterung: Der Begriff „rekombinante Nukleinsäuren“ umfasst auch künstlich hergestellte mRNA. Der Gesundheitsausschuss des Bundestages empfahl im Juni 2009 den Abgeordneten, den 72-seitigen Änderungsentwurf der Regierung anzunehmen. Obmann der CDU im Ausschuss war zu der Zeit Jens Spahn. Der Entwurf wurde kurz danach, im Juli 2009, vom Bundestag beschlossen und damit zu geltendem Recht erklärt. Seither lautet Paragraf 4 des Arzneimittelgesetzes wie folgt (die neuen Ergänzungen sind fett hervorgehoben):
„Impfstoffe sind Arzneimittel (…), die Antigene oder rekombinante Nukleinsäuren enthalten und die dazu bestimmt sind, bei Mensch oder Tier zur Erzeugung von spezifischen Abwehr- und Schutzstoffen angewendet zu werden und, soweit sie rekombinante Nukleinsäuren enthalten, ausschließlich zur Vorbeugung oder Behandlung von Infektionskrankheiten bestimmt sind.“
Ohne diese politisch bestimmte Definitionsänderung würden die mRNA-Präparate, deren verpflichtende Anwendung aktuell geplant wird, rechtlich nicht als Impfungen sondern als Gentherapeutika gelten. Der Mediziner Wolfgang Wodarg, damals Mitglied im Gesundheitsausschuss des Bundestages, erklärte auf Nachfrage gegenüber Multipolar, dieses Detail der Gesetzesänderung sei auch ihm damals nicht bekannt gewesen. Der Beschluss sei, so Wodarg, „in der letzten Sitzung vor der Wahlkampf-Sommerpause ohne jede Debatte“ gefallen.
Ergänzend änderte die EU-Kommission im September 2009, eine Richtlinie „im Hinblick auf Arzneimittel für neuartige Therapien“. In dieser findet sich seither folgende Begriffsbestimmung:
„Unter einem Gentherapeutikum ist ein biologisches Arzneimittel zu verstehen, das folgende Merkmale aufweist: Es enthält einen Wirkstoff, der eine rekombinante Nukleinsäure enthält (…) Impfstoffe gegen Infektionskrankheiten sind keine Gentherapeutika.“
Wachstumsmarkt mRNA-Medikamente
Neuartige Gentherapien mit mRNA-Arzneimitteln werden auch deshalb in den letzten Jahren von den Herstellern massiv vorangetrieben, um starke Umsatzeinbrüche im Marktsegment der patentgeschützten Medikamente auszugleichen. Die Ärztezeitung schrieb dazu im Februar 2021:
“Bis 2023 werden die Erlösrückgänge der Pharmaindustrie durch Patentabläufe weltweit auf mehr als 121 Milliarden US-Dollar geschätzt, davon 95 Milliarden US-Dollar allein in den USA. (…) Besonders vielversprechend ist ein Gegensteuern der pharmazeutischen Industrie mit Innovationen. Die sich abzeichnenden neuartigen Therapieoptionen (zum Beispiel mRNA, bi-spezifische Antikörper, Gentherapie) lassen nicht nur Patienten hoffen, sondern werden bei erfolgreicher Zulassung auch die Umsatz- und Gewinnkurven der Hersteller neue Höhen erklimmen lassen. Denn bei verbesserter Wirksamkeit und geringeren Nebenwirkungen spielt der Preis des Medikaments eine eher untergeordnete Rolle, zumindest bei geringem oder noch nicht vorhandenem Wettbewerb. Von steigenden (Aktienkurs-) Kurven können auch Investoren profitieren, die frühzeitig auf den richtigen Branchenfonds gesetzt haben.“
Biontech: „Neuartige und noch nie dagewesene Kategorie von Therapeutika“
Das Unternehmen Biontech hatte vor der Corona-Krise so gut wie keine Erfahrung mit Impfstoffen. Man forschte dort bis 2019 vor allem an individualisierten mRNA-Immuntherapien für Krebspatienten. Zwar hatte 2018 eine Zusammenarbeit mit Pfizer begonnen um eine mRNA-„Impfung“ gegen die Grippe zu entwickeln, doch das Projekt steckte bis zur Corona-Krise – und steckt bis heute – noch in den Anfängen. Laut Unternehmensangaben von Ende 2019 befand man sich zu jenem Zeitpunkt mehr als ein Jahr vom Beginn der ersten klinischen Studien entfernt. Tatsächlich begannen die ersten klinischen Studien zu einem mRNA-Präparat, das gegen Grippe schützen soll („BNT 161“), erst im September 2021, drei Jahre nach der Ankündigung.
Im Oktober 2019 ging Biontech in den USA an die Börse um weiteres Investorenkapital einzusammeln. Aus diesem Anlass erläuterte das Unternehmen in einem umfangreichen Geschäftsbericht offen die „Risiken im Zusammenhang mit unserem Geschäft“:
„Unseres Wissens gibt es derzeit keinen Präzedenzfall für eine mRNA-basierte Immuntherapie, wie die, die wir entwickeln, die von der [US-Arzneimittelbehörde] FDA, der Europäischen Kommission oder einer anderen Aufsichtsbehörde anderswo auf der Welt zum Verkauf zugelassen wurde. (…) Die von uns entwickelten Produktkandidaten könnten nicht oder nur mäßig wirksam sein oder unerwünschte oder unbeabsichtigte Nebenwirkungen, Toxizitäten oder andere Eigenschaften aufweisen, die eine Marktzulassung verhindern oder die kommerzielle Nutzung einschränken könnten. (…)
Die Entwicklung von mRNA-Arzneimitteln ist mit erheblichen klinischen Entwicklungs- und Zulassungsrisiken verbunden, da es sich um eine neuartige und noch nie dagewesene Kategorie von Therapeutika handelt. Als potenzielle neue Kategorie von Therapeutika wurden unseres Wissens bisher keine mRNA-Immuntherapien von der FDA, der EMA oder einer anderen Aufsichtsbehörde zugelassen. (…) Bis heute gab es noch keine Phase-3-Studie für ein mRNA-basiertes Produkt oder ein kommerzielles mRNA-basiertes Produkt. (…) Derzeit wird mRNA von der FDA als Gentherapieprodukt betrachtet.“
Soweit die Biontech-Eigendarstellung vom Oktober 2019.
Fazit
Die Annahme, mRNA-Präparate, wie das von Biontech, seien Impfstoffe, basiert auf einer politischen Definitionsänderung, die ohne parlamentarische Debatte und versteckt in einem 72-seitigen Änderungsantrag vor 12 Jahren beschlossen wurde. Die beiden Beschlüsse der EU-Kommission und des Bundestages von 2009 ermöglichen es den Herstellern von mRNA-Präparaten, die strengere gesetzliche Regulierung für Gentherapeutika zu umgehen, solange sie erklären können, dass die Mittel sich gegen Infektionskrankheiten richten. Faktisch handelt es sich jedoch um Gentherapie beziehungsweise um ein gentechnisches Medikament.
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