In einem Interview 1 mit dem österreichischen Sender AUF1 sagte Dr. Gerd Reuther, der 30 Jahre in verschiedenen Kliniken als Radiologe, davon 23 Jahre in Chefarzt-Position gearbeitet hat, dass in der Gesellschaft die Pharma-Industrie offensichtlich das Zepter übernommen habe. Es sei eine Pharma-Diktatur eingerichtet worden, und die Politiker seien zu Pharma-Vertretern geschrumpft. Die Wissenschaftler lieferten vielfach nur Begründungen für die Pharma-Industrie und die meisten Ärzte seien ihre Erfüllungsgehilfen. In seinem Buch „Der betrogene Patient“ 2 geht er in die Details, die – alle exakt nachgewiesen – erschreckend sind.
Die Medikamenten-Studien
Dr. Reuther schildert, dass mehr als 90 % der randomisierten Medikamentenstudien, die für die staatliche Zulassung erforderlich sind, finanziell von der Pharmaindustrie beeinflusst würden. Das bedeutet, dass weder Vertrauen in die wissenschaftlichen Ergebnisse der Studien noch in die Integrität der staatlichen Behörden aufkommen kann.
Dies sei gar kein neues Phänomen. Jüngst aufgetauchte Dokumente belegten z.B., dass auch die amerikanische Zuckerindustrie schon 1967 Autoren für Studien mit 50.000 US-Dollar gekauft habe, um Zucker als Risikofaktor für gefäßbedingte Erkrankungen zu verschleiern. Seither habe die „Sugar Research Foundation“ mindestens über zwei Jahrzehnte Studienergebnisse gefördert, die Zucker aus der Schusslinie nehmen und stattdessen Cholesterin und Fette als Verursacher der Arteriosklerose „identifizieren“.
„Mit Verlagerung nicht nur der Produktion von Arzneimitteln, sondern zunehmend auch klinischer Studien nach Indien oder China ist ein weiterer Verfall der Integrität erhobener Daten zu befürchten. Die Kontrolleure der chinesischen Aufsichtsbehörde CFDA stellten bei der Überprüfung von 1.622 Zulassungsanträgen für Arzneimittel fest, dass 81 % (!) aufgrund gefälschter, fehlerhafter oder unzureichender Daten zurückgezogen werden müssten. Da eine Suche in einer amerikanischen Datenbank 580 klinische Phase-3-Studien identifizierte, deren Daten zumindest auch teilweise in China erhoben werden, sind dortige Studien auch für Zulassungen in den USA und Europa relevant.“
Die Einflussnahmen gingen noch weiter, fährt Dr. Reuther fort, sie beinhalteten auch, dass für vorhandene Substanzen in bereits zugelassenen Medikamenten neue Anwendungsgebiete jenseits ihrer ursprünglichen Zweckbestimmung gesucht und mit Hilfe von Ärzten neue Krankheiten erfunden würden. Immer wenn die neue Anwendung eines Medikamentes zweifelhaft sei oder werde, tauchten aus dem wissenschaftlichen Nebel Studien auf, die einen trotz gezielter Suche „unerwarteten“ positiven Nebeneffekt aufgedeckt haben wollten: Bei regelmäßiger Einnahme des Antidiabetikums Metfortmin werde z.B. behauptet, sei das Risiko für das Nachwachsen von Polypen im Dickdarm reduziert! Auf diese Weise ließe sich, so Dr. Reuther, ein geringeres Risiko genauso gut für die Untergruppe der Smartphone-Nutzer nachweisen … Trotz mathematische Signifikanz seien diese „Evidenzen“ Zufallskorrelationen ohne Kausalität und lebensweltlich irrelevant. Kommerziell seien sie dagegen höchst bedeutsam, wenn ein altes Medikament eine neue Anwendung bekommt.
„Schlimmer noch: Diese Pseudoevidenzen, die keiner Überprüfung standhalten, können einen wirklichen Erkenntniszuwachs über Jahre und Jahrzehnte aufhalten und unsinnige Behandlungen verursachen. Es gilt im Interesse der Geldgeber und der eigenen Fachgebietsansprüche: Was vorteilhaft wäre, kann doch auch einmal sein! Wie ist es sonst zu erklären, dass sich selbst in den angesehensten internationalen Fachzeitschriften die Rate positiver Ergebnisse für Studien mit und ohne Industrieunterstützung erheblich, um knapp 20 Prozentpunkte (!) unterscheidet: 67 % positive Ergebnisse bei Industrieunterstützung und 49 % ohne dieselbe? Industrieunterstützung macht es fünfmal (muss ein Fünftel mal heißen) so wahrscheinlich, dass ein untersuchtes Medikament als Mittel der Wahl empfohlen wird – was natürlich nicht heißt, dass es auch fünfmal so wirksam wäre. … Und wenn 100 % der ´wissenschaftlichen` Poster (Kongressbeiträge, die nicht als Vorträge angenommen wurden, sondern nur in Plakatform ausgestelllt werden) mit Industrieunterstützung Positives zu vermelden haben, verkommt ´Wissenschaft` in den Untiefen der nationalen Fachgesellschaften zur Lachnummer.“ (Hervorhebungen hl)
Negative Studienergebnisse mit Industriefinanzierung würden vorzugsweise dann publiziert, wenn es unerwünschte Nebenwirkungen von Medikamenten zu vernebeln gelte. So fänden sich in den letzten zehn Jahren zahlreiche Publikationen, die für Statine, die das Cholesterin im Blutserum senken, keinen nachteiligen Effekt auf Demenzen vermelden – wobei diese Bemerkung den primären Einsatz dieser Mittel zur Verhütung einer Arteriosklerose gar nicht betrifft. Warum diese Nebenbemerkung?
„Wie Duftspuren zur Ablenkung einer Hundemeute bei einer Fuchsjagd sollen diese „Studien“ einem Zusammenhang zwischen der Einnahme von Statinen und der Entstehung einer Demenz vorbeugen.“ Zwei Veröffentlichungen eines amerikanischen Autors aus den Jahren 2000 und 2004 hätten nämlich auf eine Einschränkung der kognitiven Leistungen unter Statinen hingewiesen. Und auch ein früherer Direktor der WHO fände es unwahrscheinlich, dass Substanzen, die den Cholesterinstoffwechsel beeinflussen, keinerlei Auswirkungen auf das Gehirn, das Organ mit dem höchsten Cholesterinumsatz, haben sollen. Kognitive Beeinträchtigungen mit Gedächtnisausfällen seien jedenfalls nicht nur als Einzelfälle bei der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA, sondern auch in randomisierten Studien erkennbar.
„Publikationen in (wissenschaftlichen) Journalen mit hohem Impact-Faktor (Kennziffer für den Einfluss einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift) garantieren keineswegs wissenschaftliche Integrität und zweifelsfreie Evidenz. Methodisch schlechte und tendenziöse Studien können so zu hochrangig publizierten Pseudoevidenzen aufgewertet werden. Der Impact-Faktor einer Fachzeitschrift steigt mit der Zahl der veröffentlichten Pharmastudien. Die Pharmaindustrie beherrscht nachvollziehbar den Wissenschaftsmarkt. Was in „´höherwertigen` Zeitschriften steht, kann von einem Leitliniengremium3 meist nicht ignoriert werden.
Finanzielle Abhängigkeiten
Weniger bekannt sei, so Dr. Reuther, dass medizinische Wissenschaftler mit Abhängigkeit von industriellen Geldgebern zunehmend ihre Datenhoheit aufgegeben hätten. Die Geldgeber sicherten sich vorab alle Rechte auf Daten, Auswertung und Publikation, so dass die vermeintlichen Autoren einer Studie oft keinen Zugriff auf die von ihnen gesammelten Daten hätten. Die Pharmakonzerne und ihre Ghostwriter erledigten die Arbeit. „Ärzte sind zu ´Messknechten` verkommen, die nicht nur die Hoheit über die Forschungsthemen, sondern auch über die Ergebnisse und deren Interpretation verloren haben. Wer nicht mitspielt, hat ausgespielt. Die finanzstarken Industrielobbys üben zunehmend die volle Kontrolle über das medizinische Wissen aus.“
Sie monopolisierten die Daten durch Exklusivrechte für Studien und kontrollierten die praktizierenden Ärzte, da sich aufgrund der gesetzlichen Fortbildungsverpflichtung aller aktiven Mediziner niemand den von der Industrie unterstützten Referenten entziehen könne.
Denn, so hatte Dr. Reuther schon vorher festgehalten (S. 77), bestünden 80 % der ärztlichen Fortbildungen aus Vorträgen und Seminaren der pharmafinanzierten Fortbildungsindustrie. Dort verkauften ausgewählte Ärzte als inoffizielle Mitarbeiter von Big Pharma jede noch so abwegige Geschichte mit dem Anschein hehrer Wissenschaft und sängen das Hohelied auch auf unnötige Produktinnovationen.
Im Durchschnitt stünden etwa 260 Ärzte auf der Honorarliste einer Pharmafirma, große Konzerne hätten bis zu 16.500 Ärzte unter Vertrag.
„Tief ist der Sumpf der Verstrickung von Universitätsmedizinern in der Psychiatrie. Die deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) sah sich im Juni 2011 veranlasst, einen „Code of Conduct“ für Vorstandsmitglieder mit ´Empfehlungen zur Vermeidung von Interessenkonflikten` zu veröffentlichen und lud am 24. November 2011 zu einer Gesprächsveranstaltung zum Thema ´Psychiatrie im Sold der Industrie?` Ursächlich für die Aktivitäten der DGPPN dürfte ein schonungsloser Artikel in ´DER SPIEGEL` gewesen sein, in dem die Verstrickung psychiatrischer Lehrstühle in Deutschland mit der Pharmaindustrie aufgezeigt wurde. Von 37 Professoren hatten mindestens 35 auf ihrem Berufsweg finanzielle Zuwendungen von Pharmafirmen angenommen. Fragwürdige Psychotherapeutika – die zu den umsatzstärksten Produkten der Pharmakonzerne gehören – wurden dafür positiv in Leitlinien erwähnt oder gar in Industriesymposien angepriesen. Die alle paar Jahre vorgenommenen Neu- und Umdefinitionen der psychiatrischen Krankheitsbilder werden sichtlich den Therapieangeboten der Pharmaindustrie angepasst.“
Zahlungen von Pharmafirmen an Ärzte gebe es in allen Bereichen der Medizin. In den USA hätten Nuklearmediziner, Neurochirurgen und orthopädische Chirurgen im Jahr 2015 gemäß dem „Physician Payment Sunshine Act“ die höchsten Zuwendungen aus der Industrie im Internet ausweisen müssen. In Deutschland hingegen bestehe erst seit dem 1. Juli 2016 eine anonyme kumulative Angabe der Zahlungen von Pharmafirmen über den Verein Freiwillige Selbstkontrolle für die Arzneimittel-Industrie e.V. (FSA). Für das Jahr 2017 seien 605 Millionen Euro als Zahlungen an 71.000 Ärzte genannt. Allerdings hätten nicht einmal 30 % der Zahlungsnehmer einer Veröffentlichung mit namentlicher Zuordnung zugestimmt.
Wissenschaftliche Seifenoper
Dr. Reuther fügt dazu ein persönliches Erlebnis aus einer Weiterbildungs-Veranstaltung ein, das schlagartig die korrupte Situation beleuchtet:
„Vor 30 Jahren hatte ich die enge Verstrickung von Medizinindustrie mit medizinischer Wissenschaft und Weiterbildung noch nicht verstanden. Als aufstrebender wissenschaftlicher Mitarbeiter einer deutschen Universitätsklinik wurde ich von meinem damaligen Chef zum Referenten für ein internationales Symposion in einem bayerischen Urlaubsort bestimmt. Ich wusste damals nicht, dass nicht nur den Referenten keine Kosten entstanden, sondern alle Teilnehmer ihren Aufenthalt inklusive Gesellschaftsprogramm von einem großen Kontrastmittelhersteller (Kontrastmittel für Röntgenbilder z.B.) bezahlt bekamen.
Beim Festabend war die Veranstaltungshalle mit mehreren hundert Ärzten und deren Begleitpersonen voll besetzt. Einem professionellen Grußonkel in Tracht wurde auf dem Weg zum Rednerpult noch zugeraunt, wer der Veranstalter dieses Abends war. Auf der Bühne angekommen, donnerte er mit einem herzlichen Bass: ´Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Firma Schering!`
Schlagartig war es totenstill, sodass man die berühmte Stecknadel hätte fallen hören können. Die Schreckstarre löste sich in vereinzelten Lachern, die zu einem minutenlangen Lachgewitter aller Anwesenden anschwollen. Der fachfremde Einheimische hatte mit seiner Fehlwahrnehmung den Nagel auf den Kopf getroffen.“
Drittmittel-Forschung
Über die zunehmende Drittmittelabhängigkeit, führt Dr. Reuther weiter aus, seien Universitätskliniken und staatliche Institute zu Werkbänken der Pharma- und Medizintechnik-Industrie verkommen.
Die Fälschung von Studienergebnissen beginne schon mit dem, was überhaupt nicht untersucht werde. Bei der Zulassung von Behandlungsverfahren würden negative Effekte nur überprüft, wenn sie zeitnah auftreten – schon aus Gründen der Produkthaftung und weil dies eine schnelle Zulassung nicht gefährde. Anders sehe es mit verzögerten Effekten und der Auslösung chronischer Erkrankungen aus. Dies erfordere mehr Zeit und auch den Willen, einen ursächlichen Zusammenhang überprüfen zu wollen. Begünstige z.B. ein Medikament zur Verhütung einer Arteriosklerose bei langzeitiger Einnahme eine Demenz, dann müsse man erst einmal bereit sein, dies ins Kalkül zu ziehen. Der Hersteller des Medikaments habe jedoch kein Interesse, unerwünschte Nebenwirkungen umfassend auszuleuchten. Werde die medizinische Forschung immer stärker von der Vergabe von Drittmitteln abhängig, dann unterblieben Studien über diese Zusammenhänge. Und was nicht untersucht wurde, gebe es dann nicht.
„Auch wissenschaftliche ´Leuchttürme` wie Max-Planck- und Fraunhofer-Institute finanzieren sich unter anderem über fragwürdige Auftragsarbeiten aus der Industrie unter Einsatz reichlicher Steuergelder. Die Praktiken erreichen nur dann die Öffentlichkeit, wenn ein Skandal wie aus dem Leipziger Fraunhofer-Institut IZI von einem Nachrichtenmagazin aufgegriffen wird: Ein Mitarbeiter war fristlos gekündigt worden, weil er für eine Auftragsforschung nicht die erwarteten Ergebnisse produzieren konnte und wollte.
Wenn der Präsident der Berliner Humboldt-Universität bekennt, dass die Universitäten ohne Drittmittel ihre Forschung und Lehre nicht mehr erfüllen könnten, dann belegt dies den Bankrott einer unabhängigen universitären Forschung.“
Deutsche Hochschulen hätten Tausende geheim gehaltener Kooperationsverträge mit Industriekonzernen abgeschlossen, die mit unabhängiger Forschung und freiem Zugang unvereinbar sind.
Als Blaupause könne die Errichtung und der Betrieb des Instituts für Molekulare Biologie (IMB) auf dem Campus der Universität Mainz durch die Boehringer Ingelheim Stiftung gelten. Wie in den 1960er- bis 1980er-Jahren in der Physik einseitig die nukleare Forschung dominiert habe, so Dr. Reuther, drängten sich so in der Medizin Genomforschungen in den Vordergrund, ohne dass dies einer Themenrelevanz geschuldet wäre. Andere Konzepte wären bei entsprechender Erfolglosigkeit längst in universitären Nischen verschwunden. Welche Erkenntnisse sollten denn gewonnen werden, wenn von der Industrie behauptete Krankheitsursachen und -mechanismen die Entwicklung der Therapeutika vorherbestimmen?
„Universitäten haben die Freiheit der Forschung auf dem Altar des industriellen Geldes geopfert. Es wird zunehmend nur noch geforscht, was die Industrie interessiert, denn auch der Anteil der Mittel, die der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) entstammen, ist unter Kontrolle der Wirtschaft. Der Anteil der Drittmittel – inzwischen 1,4 Milliarden Euro – ist auf ein Fünftel angestiegen und liegt damit doppelt so hoch wie vor zehn Jahren. Dazu kommen noch die von der Industrie eingerichteten Stiftungsprofessuren.
Insbesondere in den klinischen Fächern mit hohen Medikamenten-Umsätzen (Innere Medizin allgemein, Onkologie, Psychiatrie, Schmerztherapie) sowie bei universitären Stellenbesetzungen sind nicht mehr ärztliches Können, empathische Zuwendung zum Kranken oder organisatorische Fähigkeiten und Mitarbeiterführung gefragt. Es zählen: Erfahrung in der Strukturierung von Studienzentren (…), die Höhe der eingeworbenen Drittmittel, Mitarbeit in überregionalen Gremien und möglichst viele Teilbezeichnungen von Subspezialisierungen auf dem Papier. Fachliche oder gar menschliche Kompetenz und eine veritable Publikationsliste dürfen fehlen.
Einladungen zu internationalen Kongressen und in Gremien sind nur für den in Reichweite, der sich die Interessen der dominierenden Pharma- und Medizintechnikindustrie zu eigen macht und vor lauter Interessenkonflikten untauglich für eine unabhängige wissenschaftliche Tätigkeit ist. Ohne Finanzzusagen aus der Industrie ist eine C3- oder C4-Professur kaum zu bekommen.“
Ausmaß und Gewöhnung
Längst sei die Grenze zwischen wissenschaftlicher Information und pharmazeutischem Marketing verwischt. Bei den Jahreskongressen der Fachgesellschaften kündigten riesige Banner der industriellen Hauptsponsoren schon von weitem, dass hier nicht in erster Linie mit evidenzbasierten wissenschaftlichen Informationen zu rechnen sei. Es erscheine kaum ein Artikel über medikamentöse Therapien in einem Teilgebiet der Medizin, in dem nicht die Mehrzahl oder alle Autoren Interessenkonflikte mit den Herstellern der betroffenen Medikamente haben.
Das Merkwürdige dabei sei, dass die mangelnde Objektivität der Artikel, Studien und Fortbildungsinhalte die Ärzteverbände und Ärztekammern nicht störe, allenfalls bei öffentlichem Druck.
Zwar sei es unter dem Druck angloamerikanischer Institutionen in Deutschland zur Pflicht geworden, als Autor von Fachbeiträgen Interessenkonflikte zu deklarieren. Allerdings fielen nicht alle Artikelkategorien unter diese Auflage, wie solche mit politischen Bezügen, oder Stellungnahmen unter „Pro und Kontra“, die im Deutschen Ärzteblatt (DÄ) ohne irgendeine Kennzeichnung von Interessenkonflikten erschienen.
Nur wenige Fachgesellschaften hätten Regeln für Interessenkonflikte formuliert. Lediglich die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin verzichte bisher auf Industriesymposien zur Finanzierung ihres Jahreskongresses. Und die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft lege neuerdings auch Wert auf Industrieunabhängigkeit und habe Regeln für Fortbildungsveranstaltungen erarbeitet. Doch ein Schweigegebot gebe es beim Vorliegen von Interessenkonflikten in Deutschland nicht, da dies einem Schreibverbot in Fachzeitschriften für Alpha-Mediziner gleichkäme.
„Man veröffentlicht einfach unter Angabe von ´Interessenkonflikten`. Die Deklarationserklärung wird zum Ablasshandel, der die Autoren zwar nicht in den Himmel, aber in die diversen ´wissenschaftlichen` Fachzeitschriften bringt. Die Sünde ist bezahlt und gar nicht teuer, dass sich Interessenkonflikte immer nur im Kleingedruckten am Ende eines Beitrages finden, sodass wenig Aufmerksamkeit erzeugt wird. Hinzu kommt der Kniff, alle möglichen Interessenkonflikte unabhängig von ihrer Relevanz für den Beitrag offenzulegen – das entschärft die Manipulationsgefahr in keiner Weise, sondern erhöht im Gegenteil die Aufmerksamkeitsschwelle der Leser durch Gewohnheits-Effekte. Mehrfache Befangenheiten sind ohnehin an der Tagesordnung, und der Beitrag ist dann schon gelesen worden.
Eigentlich müssten viele Ärzte wie Fußballtrainer oder Formel-1-Fahrer übersät mit Firmenlogos auf ihren weißen Kitteln, dekorierten Hemdkrägen und Baseballkappen an die Rednerpulte treten. Alles andere ist gerade auch bei akademischen Meinungsführern Maskerade.
Die Verharmlosung
Man muss sich klarmachen, was sich da eigentlich abspielt: Was Befangenheit ist und Korruption mit sich führt, wird heute beschönigend „Interessenkonflikt“ genannt. Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften, schreibt Dr. Reuther, übersetze das verharmlosende Wort aus dem angloamerikanischen Vorbild wie folgt:
„Interessenkonflikte sind definiert als Gegebenheiten, die ein Risiko dafür schaffen, das professionelle Urteilsvermögen oder Handeln, welches sich auf ein primäres Interesse bezieht, durch ein sekundäres Interesse unangemessen beeinflusst wird.“
Es sei also eine Risikosituation, die eine mögliche befangene Faktenverfälschung beinhalte! „Interessenkonflikte“ bedeuteten also nur die Möglichkeit der Befangenheit, keinesfalls aber eine mit Sicherheit bestehende Befangenheit. Die Angabe eines „Interessenkonfliktes“ signalisiere praktisch einen erfolgreich kontrollierten inneren Konflikt, „sonst würde der Autor ja schweigen… Die Botschaft ist offenkundig: Es gibt nur erfolgreich kontrollierte Interessenkonflikte, aber keine Befangenheiten und schon gar keine Korruption.“
Ein Fazit
Dr. Reuther fasst am Ende dieses längeren Kapitels seines Buches ein Fazit:
„Medizin ist heute nur zu einem sehr geringen Anteil eine Naturwissenschaft, weil das befreite Denken der Aufklärung unter Ärzten nicht heimisch geworden ist: ´Denn die große Menge der Sklaven des Vorurteils vermögen ebenso wenig an die (Wahrheit) heranzureichen, als es den Fröschen zu fliegen vergönnt ist`, schrieb La Mettrie, und das vor über 250 Jahren! Entstammte die Befangenheit in früheren Jahrhunderten vor allem der Unterordnung unter unbewiesene Dogmen und Lehrmeinungen, sind es heute die (oft ebenso unbewiesenen) Postulate der Pharma- und Lebensmittelindustrie, die Ursachen und Mechanismen von Krankheiten nach wirtschaftlicher Interessenlage vorherbestimmen wollen.
Die Straße in die Hölle der unwissenschaftlichen Auftragsforschung der Medizin ist mit den Stiftungsgeldern der Pharma- und Medizintechnik-Industrie sowie den monatlichen Einnahmen aus der eigenen Berufstätigkeit gepflastert. Universitäre Meinungsführer sind allzu oft Messdiener industrieller Interessen und eigener Karriereziele, für die sie ungeniert mangelnden Produktnutzen mit der Monstranz wissenschaftlicher Evidenz dekorieren und mit Zahlen lügen.“
Ausblick
Solche erschreckenden und alarmierenden Analysen von Insidern müssen die Menschen aufwecken. Die Frage muss gestellt und beantwortet werden: Wie lassen sich grundlegende Änderungen herbeiführen? Kleine Reparaturen innerhalb dieses korrupten Systems, das die Freiheit der Wissenschaft ad absurdum führt und das ärztliche Ethos aushöhlt, verlängern nur das fortschwelende Übel. Eine fundamentale Auflösung und Veränderung dieses heillosen Geflechtes aus wirtschaftlichen Profitinteressen, medizinischen Wissenschaften, Ärzteschaft, Politik und Staat ist dringend notwendig.
Dies kann nur dadurch geschehen, dass die medizinischen Wissenschaften und das gesamte Gesundheitssystem als Teil eines notwendig freien Geisteslebens begriffen werden, das eine eigene Selbstverwaltungs-Organisation benötigt, die völlig unabhängig von der Wirtschaft und auch vom Staat besteht, welche sich ihrerseits überhaupt nicht einzumischen, sondern nur die frei errungenen Ergebnisse und Früchte des Geisteslebens entgegenzunehmen haben.
Die Organe des freien Geisteslebens werden zu ihrem eigenen Schutz Regeln vereinbaren und auch der Staat Rahmen gebende Gesetzesvorschriften erlassen müssen, die korrumpierende Übergriffe aus Wirtschaft und Staat in das freie Geistesleben ausschließen. 4
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